Александр
03/10/2018, 22:18
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Ende 90-er arbeitete ich als Schullehrer in Twer, wo Dostojewski ein paar Jahre nach dem Ablauf der Strafe gewohnt hatte. Das ist ungefдhr 180 km von Moskau entfernt. Jeden Sonntag, morgen frьh, fuhr ich mit einem Vorortszug zum lutherischen Gottesdienst nach Moskau. Und immer wieder traf ich im Zug zwei obdachlose Kinder – ein sechs oder siebenjдhriges mageres Mдdchen, das auf dem Kopf ein altes rotes Tuch vermutlich ihrer verstorbenen Mutter trug, und auf dem Rьcken einen selbstgemachten Rucksack. Das Mдdchen war immer mit seinem vierzehnjдhrigen Bruder. Die beiden waren bettelarm und in schmutzige zerrissene Klamotten angekleidet. Ich hatte sie in diesem Vorortszug jeden Sonntag getroffen. Sie kamen in den Waggon, der Junge begann das Harmonika zu spielen und das sechsjдhrige Kind, das Mдdchen, sang immer ein und dasselbe patriotische Lied vor, das Lied ьber die Heimat, Feinde und Panzer. Solcherweise verdienten sie ihr Brot. An einem Sonntag, es war ein groЯes orthodoxes Fest, Ostern, schenkte jemand von Passagieren dem Mдdchen eine alte schдbige Puppe. Die Kinder kamen in meinen fast leeren und verstaubten Waggon, wo ich auf der ersten Bank saЯ, sie machten eine Pause, denn es lohnte sich nicht in einem fast leeren Waggon Harmonika zu spielen und vorzusingen. Die Kinder setzten sich mir gegenьber. Und das Mдdchen begann sofort mit der geschenkten Puppe zu spielen und mit ihr zu sprechen. Seine Augen glдnzten vor Glьck und Freude. Das Kind vergaЯ alles: den alten Vorortszug, die Armut, das eigene alte schmutzige Kleid…Es saЯ vor mir eine echte Prinzessin…Plцtzlich begann das Kind durch seine Puppe mit mir zu sprechen und mir zu erklдren, dass man den Zauber und die Magie im Geheimnis halten mьsste, sonst, wenn du sie den anderen Leuten erzдhlen wьrdest, kцnntest du sie verlieren…
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Im Herbst bekam ich eine Stelle als Deutschlehrer in der Mittelschule unseres Stдdtchens. Am Rande der Stadt, im Bezirk Tscherjomuschki, fand ich ein kleines Zimmer, das ich sofort mietete. So begann mein neues Leben als Stдdter und als Lehrer.
„Lehrer“, flьsterten mir die Kinder im Hof hinterher. Das erfьllte mich mit Stolz und gab mir neue Kraft, die Schwierigkeiten des Alltags zu ьberwinden. Jeden Morgen ging ich in die Schule und freute mich auf das neue Treffen mit meinen Schьlern.
Tдglich zur gleichen Zeit traf ich auf dem Weg einen Jungen, der auch immer irgendwohin eilte. Er war ungefдhr zehn Jahre alt. Sehr schlecht gekleidet, ungekдmmt und schmutzig wollte er bestimmt nicht zur Schule. Zuerst beachtete ich ihn kaum,, denn alle meine Gedanken waren den kommenden Stunden gewidmet. Doch mit jeder neuen Begegnung wuchs mein Interesse fьr das Kind. Ein paar Mal versuchte ich, den Jungen anzusprechen, aber er wies alle meine Annдherungsversuche gleichgьltig ab. So verging einige Zeit.
Einmal erzдhlte ich den Kindern im Hof meines Hauses von diesem seltsamen Jungen.
„Das ist Bettler Wanjka“, erklдrte mir die 14-jдhrige Lena, die Tochter meiner Nachbarn. „Er wohnt mit der Mutter in der Vorstadt Podgorodneje, hinter der Bahnlinie.“
Die anderen Kinder kannten Wanjka auch. Ihre Meinungen ьber ihn waren geteilt.
„Aber wo bettelt er und warum?“, wollte ich wissen.
„Manchmal auf dem Markt, manchmal neben dem Gasthaus. Er bettelt dort, wo die Autos der Reichen stehen. Seine Mutter trinkt“, erzдhlten mir die Kinder.
Sehr bald half mir ein Zufall, Wanjka nдher kennenzulernen. Eines Tages kehrte ich am spдten Nachmittag von der Arbeit zurьck und bemerkte, wie im naheliegenden Park eine Schar Kinder Wanjka verprьgelte. Ich musste mich einmischen. Ein Auge Wanjkas war schon blau. Die Kinder schrien aufgeregt: „Er hat gestohlen! Er hat gestohlen!“
„Was hast du gestohlen?“, fragte ich in aller Ruhe das Kind, vor das ich mich schьtzend gestellt hatte.
„Eine Flasche Fanta“, schluchzte Wanjka.
„Wir spielten FuЯball, und es war der Preis fьr die Gewinner“, riefen die Kinder laut.
Ich nahm Wanjka an meine Seite )die Flasche Fanta gab er den Spielern zurьck), und wir gingen gemeinsam nach Hause, denn Podgorodneje befindet sich in der Nдhe von Tscherjomuschki. Wanjka sprach unterwegs kein Wort. Ich begleitete ihn bis zu seinem Haus. Es war ein sehr altes Hдuschen. Eine Fensterscheibe fehlte und war durch ein Stьck Folie ersetzt. Es gab keinen Zaun. An den Fenstern konnte man keine Vorhдnge sehen. Nur das Bellen eines Hundes zeigte, dass hier Menschen wohnen.
„Belyj, beruhige dich!“, befahl Wanjka, und der Hund begann sofort, mit dem Schwanz zu wedeln.
Die Tьr war offen, und wir traten ein. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich so eine grausame Armut. Es schien, als blickte sie uns aus allen Ecken des kleinen Zimmers entgegen. In einer Ecke sah ich ein Bett, das allenfalls einer Pritsche дhnelte: keine Bettwдsche, nur eine schmutzige Matratze lag darauf. Die Tapeten an den Wдnden waren fleckig und an vielen Stellen zerrissen. Auf dem FuЯboden neben dem Herd lagen vier Kartoffeln. Irgendwelche andere Lebensmittel gab es in dieser Wohnung anscheinend nicht.
„Bist du hungrig?“, fragte ich Wanjka und verstand plцtzlich, wie taktlos meine Frage klang. Alle Bewohner dieses Hauses waren hungrig: Wanjka, seine alkoholsьchtige Mutter und der Hund Belyj.
„Komm, wir gehen zu mir nach Tscherjomuschki und holen ein paar Knochen fьr Belyj“, schlug ich dem Kind vor.
Unterwegs dachte ich an Valentin Rasputin und seine „Franzцsischstunden“.
Wanjka brauchte keine anonymen Pдckchen mit Nudeln und Hдmatogen. Wanjka war Bettler. An diesem Abend erzдhlte er mir ьber sein Dasein. Ich bewirtete ihn zu Hause und hцrte aufmerksam zu:
„…am Abend wasche ich Autos neben dem Gasthaus. Besonders gut geht es im Sommer. Es gibt viele Urlauber, und in jeder Schule gibt es einen Kinderplatz mit einer Kantine, wo man frьhstьcken und zu Mittag essen kann. In einer Schule esse ich dann selbst, und aus der anderen bringe ich in einem Glas etwas fьr die Mutter mit.“
„Warum gehst du nicht zur Schule?“, fragte ich.
„Um eine Schule zu besuchen, habe ich keine Kleidung. Ein paar Mal versuchte ich es, aber…Die Mutter bekommt im September eine materielle Unterstьtzung fьr mich und vertrinkt das Geld. Und ohne Schultasche, ohne Hefte und Kugelschreiber gibt es keine Schule.“
Inzwischen wurde es dunkel. Ich begleitete das Kind bis zu seinem Haus, neben dem ich eine kleine, magere Frau bemerkte. „Meine Mutter“, seufzte Wanjka, und wir verabschiedeten uns.
Noch ein paar Mal besuchte ich den Jungen, dann aber erkrankte ich und musste einige Wochen im Krankenhaus verbringen. Nach der Genesung fiel mir auf, dass Wanjka nirgends mehr zu sehen war. Ich befragte die Kinder im Hof, und sie erzдhlten mir, dass Wanjka Mutter gestorben sei und die GroЯmutter aus einem Dorf bei Rjasan Wanjka zu sich geholt habe.
Noch sehr lange danach sahen die Leute in der Stadt den obdachlosen Hund Belyj, ebenso einen Bettler wie den kleinen Wanjka.
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Zweite Tageshдlfte in der Schule. Letzte Stunde in der Klasse 6a. Deutsch. Fьnf Jungen und zwei Mдdchen sind meine Zuhцrer. Wir haben das Thema „DrauЯen fallen die Blдtter“. Es klingt poetisch so: Bunte Blдtter bedecken die Erde wie ein Teppich. Es ist warm, und der Wind ist angenehm.
Das ist heute schon meine achte Unterrichtsstunde. Ich bin mьde und hungrig und ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken an das Ende der Stunde, was ich eigentlich als Lehrer nicht sollte.
„Darf ich hinaus? Ich muss auf die Toilette!“, hebt Sascha die Hand. Ich nicke mьde und setze fort, die Konjugationsformen der starken Verben zu erklдren. „Lesen-las-gelesen…“ Nebenbei erinnere ich mich an das Mдdchen aus Tschechows Erzдhlung, das immer schlafen wollte. Und dann denke ich daran, dass es bei mir zu Hause kein Gas gibt und ich etwas kaufen muss, das ich auf dem Elektroherd aufzuwдrmen kann. „Sehen-sah-gesehen…“ Und alles ist so teuer! „Geben-gab-gegeben…“
Es klopft, Sascha ist zurьck. In der Hand hдlt er ein Brцtchen.
„Welche Frechheit! Wir alle arbeiten, und du lьgst uns an und gehst ins Cafe“, beginne ich mit Pathos meine Anklagerede.
„Ist denn das Cafe noch geцffnet?“, fragt die schьchterne Tonja, das Mдdchen aus der letzten Schulbank am Fenster. „Wir lernen hier, und er ьberfrisst sich mit Bulotschki (Brцtchen, Anm.) im Korridor.“
„Nicht ьberfrisst sich, sondern isst, Tonja“, korrigiere ich.
Der Duft des frischen Brцtchens verbreitet sich unterdessen im Klassenzimmer, und ich ertappe mich dabei, das ich jetzt an nichts anderes denken kann als an ein frisches Brцtchen mit einem Glas Tee. Hцre mich aber, dieses Gefьhl unterdrьckend, sagen: „Sascha, Sascha! Welche Schande! Setz dich! Was kostet es denn?“
„Drei Rubel vierzig“, der Schalk sitzt ihm im Nacken. „Und wie ist auf Deutsch Bulotschka?“, fragt Sascha.
Es klingelt. „Schreibt bitte die Hausaufgaben auf“, sage ich und zдhle in Gedanken das Kleingeld in meinem Geldbeutel. Es reicht fьr zwei frische Brцtchen.
DrauЯen fallen die Blдtter…
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Der Tag ist trьb. Es regnet und der Wind jagt das letzte herbstliche Laub durch die StraЯen. Jeden Nachmittag sehe ich auf der StraЯe ein kleines Mдdchen. Das ist die Erstklдsslerin Maria, sieben Jahre alt. Jeden Tag um diese Zeit wartet sie auf den Bus. Ihr Dorf liegt 15 Kilometer von unserem entfernt und dort gibt es keine Schule.
Maria ist ein mageres Mдdchen aus einer armen Familie. Auf dem Rьcken trдgt sie einen selbstgemachten Rucksack, den ihr die Mutter zum 1. September genдht hat. Auf dem Kopf trдgt Maria ein altes rotes Tuch ihrer Mutter. Die blaue Jacke hat sie in der Schule bekommen. Die Mutter stellte noch im Frьhling einen Antrag bei der Rajonverwaltung, dann wartete sie lange, und zuletzt bekam sie diese Jacke, die Jacke fьr die kleine Maria.
Es ist schon eine halbe Stunde vergangen. Das Kind blickt ungeduldig in die Ferne, aber man sieht keinen Bus. Maria nimmt aus dem Rucksack ein Stьck Folie und wickelt es um den Kopf. Nun steckt sie ihr Hдndchen in die Tasche und holt ein Stьck Brot heraus. Nach dem Essen singt das Kind etwas frцhliche und tanzt unter dem Regen auf der leeren herbstlichen StraЯe. An der tanzenden Maria fahren viele PKWs vorbei, aber die Mutter hat ihr streng verboten, in private Autos einzusteigen.
Das Brot ist lдngst aufgegessen. Jetzt trдumt das Kind von zu Hause. Es trдumt von der Mutter, von ihren Schwestern, von der Katze, die letzte Woche vier Kдtzchen geboren hat. Die Mutter ist jetzt bestimmt schon zu Hause, denkt die kleine Maria. Marias Mutter arbeitet als Melkerin, und Marias Vater ist schon drei Jahre im Gefдngnis.
„Wo ist denn dieser Bus?“, denkt Maria und lдuft zum Dorfadministrationsgebдude, um sich dort nach der Zeit zu erkundigen und ein paar Minuten in der Wдrme zu stehen. Die Mitarbeiter der Administration trinken Tee mit Bonbons, und ein Bonbon geben sie Maria. Marias Augen strahlen vor Freude. Sie wird den Schwestern das Bonbon nicht zeigen. Am Abend, wenn sie Karottentee trinken werden, wird Maria der Mutter heimlich das Bonbon zeigen: „Guck mal, Mami! Probier mal!“
Der Bus ist noch immer nicht da. Die FьЯe werden kalt und der Rucksack ist ganz nass und schwer geworden. Maria blickt in die Ferne und wartet. Vielleicht soll sie nochmals an der Dorfadministration vorbeischauen? Vielleicht trinken sie dort noch Tee?
Endlich sieht Maria den Bus in der Ferne. Alle Busfahrer kennen Maria. Sie wissen, dass sie seit diesem Jahr in die Schule geht, und nehmen das Kind kostenlos mit. Maria steigt in den warmen Bus ein und fдhrt nach Hause. Morgen sehe ich sie wieder.
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Wowas Mutter sitzt im Gefдngnis und Wowa wohnt bei der GroЯmutter. Er ist elf Jahre alt, mager, blass und immer traurig. Nach der Schule wartet er auf mich und wir gehen zusammen bis zur Stelle, wo die StraЯe nach rechts abbiegt. Unweit von hier wohnt Wowa, weiter gehe ich allein und denke unterwegs nach: ьber das Alleinsein und ьber das Schicksal.
Einmal baten mich die Kinder in der Schule: „Alexander Wladimirowitsch, wir sind mьde. Lassen Sie uns heute etwas frьher nach Hause gehen.“ Plцtzlich hцrte ich aus dem Kinderchor die ruhige Stimme von Wowa: „Und ich will nicht nach Hause. Ich wьrde lieber in der Schule bleiben.“ Diese Worte bringen mich in Verlegenheit und klingen noch lange in meinen Ohren.
Gestern brachte Wowa mir eine Zeichnung. Ein mit Bleistift gezeichnetes groЯes Schiff. Ein Segelschiff. Auf dem Schiff sehe ich zwei kleine Figuren: eine Frau und ein Kind. Sie halten einander an der Hand. „Das bin ich“, sagt Wowa stolz. Dann fьgt er leise hinzu: „Ich und meine Mutter.“
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Wladik ist zwцlf Jahre alt, er wohnt mit der Mutter und dem Stiefvater in einer Zweizimmerwohnung in Moskau. Sein GroЯvater arbeitet als Trainer in einer Sportschule in Wien und bald fдhrt Wladik zu ihm, um dort weiter zu lernen. Schon zwei Wochen lang unterrichte ich Wladik in Deutsch. Jeden Abend lernen wir Grammatik, Orthographie und Wortschatz.
Der Stiefvater von Wladik, klug und sympatisch – ist auch ein Sportler. Wladiks Mutter liebt ihren neuen Mann sehr. Man kann das an ihren Augen sehen.
Einerseits wollte Wladik nach Wien, andererseits auch nicht. In Moskau hat er Freunde, Muter, den Lieblingshund. All das sprach gegen die Reise. Dafьr sprach der Abenteuergeist, der GroЯvater, eine neue Stadt und neue Freunde.
Einmal wiederholten wir zusammen ein deutsches Lied, das Wladik einen Tag davor auswendig gelernt hatte:
„Es waren zwei Kцnigskinder,
Sie hatten einander so lieb…“
„Wir wiederholen das Lied und dann trдgst du es deinen Eltern vor“, sagte ich. „Wozu?“, fragte er. „So wirst du deinen Eltern eine Freude machen.“ – „Sie haben ihre eigene Freude miteinander“, meinte Wladik.
Nach ein paar Wochen fuhr er mit dem Zug nach Wien. Die Mutter weinte auf dem Bahnhof und bat die Schaffnerin gut auf ihn aufzupassen.
Es verging einige Zeit, mir scheint ein paar Jahre. Ich fuhr mit der U-Bahn zu meinem Zimmer. Auf einer U-Bahn-Station begrьЯte mich eine Dame:
„Guten Abend! Erkennen Sie mich nicht? Ich bin die Mutter von Wladik. Er spricht in seinen Briefen oft von Ihnen. Dann schreibt er stets ein und dasselbe Lied. Ich kenne es schon auswendig:
„Es waren zwei Kцnigskinder,
Sie hatten einander so lieb…“
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Kotow ist 13 Jahre alt und ist ein frischgebackener Suworowschьler. Wie ich stammt er vom Dorf. Kotow hat einen дngstlichen Blick und wenn ich ihn ansehe, habe ich immer Mitleid mit ihm.
Unsere Deutschlehrerin gibt ihm nur schlechte Noten und will nichts davon hцren, dass es in der Schule, wo Kotow zuvor lernte, drei Jahre lang keine Lehrerin fьr Deutsch gab.
Wenn jemand Kotow anschreit, scheint mir, dass er augenblicklich kleiner wird. Alles in ihm spricht von Dorf und Armut. Er ist seiner kleinen Mutter sehr дhnlich. Ich habe sie einmal zusammen gesehen. Sie saЯen auf einer Bank vor der Suworowschule und aЯen Schwarzbrot mit Tomaten und hartgekochten Eiern. Ihre Gesichter wirkten mьde und traurig. Die Mutter hatte einen ebenso дngstlichen Blick, wie ihr Sohn.
Im Frьhling wurde Kotow wegen mangelhaften Leistungen aus der Suworowschule entlassen. Aus dem Fenster konnte ich ihn (schon ohne Uniform) mit seiner kleinen Mutter sehen. Sie gingen nach Hause, in ihr Dorf. Beim Weggehen sah Kotow sich zum letzten Mal um, als wollte er von seiner Suworowschule Abschied nehmen. Er wollte in der Stadt weiter lernen, aber die Armut zog ihn zurьck ins Dorf, wo es drei Jahre lang keine Deutschlehrerin in der Schule gab.
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Moskau. Ich arbeite zeitweise als Privatlehrer fьr Deutsch und zugleich als Lasttrдger in der Firma „Mцbel-Umzug-Transporte“. Ich komme hundsmьde nach der Arbeit zurьck und will nur eins: schlafen! Morgen frьh fahre ich schon wieder zur Arbeit. Heute aber habe ich noch Deutschunterricht. Mein Schьler, der Sohn eines Moskauer Bankiers, ist dreieinhalb Jahre jung. Die Wohnung befindet sich in einem Hochhaus auf der Rubljowskoje Chaussee, das der diplomatischen Verwaltung gehцrt. Die Wдrter ьberprьfen meine Papiere, dann fahre ich mit dem Fahrstuhl hoch, klingle an die Tьr und stehe meinem Schьler und seiner Mutter gegenьber. Der Diener hilft mir aus dem Mantel, reicht die Hauspantoffeln, und wir machen uns bekannt. Ich bin etwas scheu. Zum ersten Mal habe ich einen so jungen Schьler. Aber Deutsch ist ihm nicht fremd. Jeden Tag fдhrt ihn die Mutter in den deutschen Kindergarten, wo er von neun bis zwцlf Uhr mit deutschen Kindern zusammen ist.
Das Kind heiЯt Mark und ist sehr kommunikabel. Es erzдhlt mir ьber seine Freunde. Im Kindergarten ist Mark mit Christine, vier Jahre alt, und mit Monika, drei Jahre alt, befreundet. Monika macht zwar ab und zu Streich, gestern zum Beispiel hat sie ihr Fingerchen in Marks Teetasse gesteckt, aber Mark ist nicht bцse auf sie.
Nach dem Kennenlernen zeigt mir Mark seine Kinderzimmer (er hat zwei – ein blaues und ein grьnes) und …Spielzeuge ьber Spielzeuge. Ein Teil davon stammt aus der Schweiz und der andere aus China.
Jemand klingelt an die Tьr. „Das ist meine Kinderfrau. Komm, ich mache euch bekannt. Sie ist sehr gьtig.“
Nachdem die Kinderfrau begrьЯt wurde, wьnscht sich Mark plцtzlich eine Fahrt nach Shukowka in Papas Mercedes, zusammen mit mir und der Kinderfrau. Den Mercedes, mit dem wir fahren, begleitet ein Jeep mit Leibwдchtern. Wir fahren auf Marks Wunsch zum Sommerhaus der Familie nach Shukowka, das zwischen Barwicha und Gorki-10 liegt. Wдhrend der Fahrt frage ich Mark, was er spдter einmal werden wolle. „Bankier wie Papa“, antwortet der Knirps…
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Ich gehe durch das Dorf zur Post, um die Briefe in den Briefkasten einzuwerfen. Ich habe es nicht eilig und lasse mir Zeit, um alles genau zu betrachten: das Dorf im Herbst und seine Einwohner, die Birken am Rande der StraЯe, das letzte nasse herbstliche Laub, den bewцlkten Himmel.
Es fдllt mir das Gemдlde „Tauwetter“ von Fjodor Wassiljew ein: einsame dцrfliche StraЯe, auf der ein Alter mit einem kleinen Mдdchen steht. Armut, Einsamkeit, der bewцlkte Himmel und die nasse StraЯe. Das Mдdchen zeigt dem Alten die Vцgel auf der StraЯe. Wohin gehen diese Leute? Vielleicht in das Kloster oder zu ihren Verwandten ins Nachbardorf? Oder sind es Bettler?
Russland. Ьberall Russland um mich herum. Meine Heimat...
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